Was Deutschlands neue Rolle im Welthandel bedeutet – verständlich, relevant, auf
den Punkt.
Von TOM SCHMIDTGEN
Mit LAURA HÜLSEMANN und ROMANUS OTTE
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TOP-THEMEN
— Drei Szenarien, wie die Mindestlohnkommission entscheiden kann — und nur eine
sorgt für Frieden in der Koalition.
— Die SPD will für einen Förderbescheid ein Aufsichtsratsmandat, um bei
kriselnden Stahlkonzernen mitzureden.
— Merz zeigt sich nach dem EU-Gipfel skeptisch mit Blick auf die US-Zölle — und
optimistisch bezüglich Mercosur.
Guten Morgen vom Team Industrie und Handel — die Entscheidung der
Mindestlohnkommission wird die Stimmung auf dem SPD-Parteitag prägen. Romanus
Otte wird vor Ort sein. Sprechen Sie ihn gern an.
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THEMA DES TAGES
SHOWDOWN UM 15 EURO: Heute soll die Mindestlohnkommission ihre heikle Empfehlung
vorlegen. Die Bundespressekonferenz zog den Termin mit Steffen Kampeter
(Arbeitgeber), Stefan Körzell (DGB) und Kommissions-Chefin Christiane Schönefeld
auf 10 Uhr vor.
Pikantes Timing: Am Mittag beginnt der SPD-Parteitag — mit einer Rede von
DGB-Chefin Yasmin Fahimi.
Die SPD will eine Erhöhung auf 15 Euro ab kommendem Jahr. „Für die SPD ist das
eines der wichtigsten Themen“, sagte Sarah Philipp, Co-Chefin der NRW-SPD meinen
Kollegen Laura Hülsemann und Jürgen Klöckner. Welche Möglichkeiten liegen auf
dem Tisch?
Szenario 1: Die Kommission empfiehlt die Anhebung auf 15 Euro. Dann wäre
Frieden. Doch das gilt als wenig wahrscheinlich. Die Arbeitgeber halten die
Erhöhung um 17 Prozent für nicht verkraftbar.
Brandbrief Ost: Gestern warnten ostdeutsche Wirtschaftsverbände in einer
gemeinsamen Stellungnahme vor den Folgen (hier). „Es darf keine weitere Erhöhung
des gesetzlichen Mindestlohns geben, solange dieser der wirtschaftlichen
Entwicklung des Landes vorauseilt“, heißt es darin.
Szenario 2: Die Kommission spielt auf Zeit. Vor allem den Arbeitgebern wäre es
recht, das Ergebnis erst nach dem SPD-Parteitag zu verkünden, hört Romanus Otte.
Die Leerstelle würde beim Parteitag für Diskussionen sorgen — aber nicht für
Krach auf offener Parteitagsbühne.
Szenario 3: Die Kommission bleibt mit ihrer Empfehlung unter 15 Euro. Zuletzt
wurde mehrfach eine Zahl von 14,60 Euro kolportiert.
Dann hat Lars Klingbeil ein Problem. Er will als SPD-Chef wiedergewählt werden.
Das könnte dann daran geknüpft werden, ihn per Parteitagsbeschluss darauf zu
verpflichten.
Notfalls per Gesetz: „Ich halte es für absolut wichtig, hier einen Pflock
einzuschlagen und den Mindestlohn auf 15 Euro anzuheben, notfalls per Gesetz“,
sagte Philipp. Sie bringt auf dem Parteitag das Gewicht des größten
SPD-Landesverbandes ein.
Spielraum: „Wenn er knapp drunter ist, würden wir kein Gesetzgebungsverfahren da
anschließen“, sagte der kommissarische SPD-Generalsekretär Tim Klüssendorf
meinem Kollegen Gordon Repinski im Playbook-Podcast.
Und immerhin: „Für mich wäre es ein Wert an sich, wenn Arbeitgeber- und
Arbeitnehmerseite zu einem gemeinsamen Ergebnis kommen“, so Klüssendorf.
Aber da geht noch mehr: „Beim Parteitag können wir auch SPD-Themen beschließen,
die über den Koalitionsvertrag hinausgehen“, beharrt Philipp.
Zeichen setzen: „Die SPD kann nicht wieder erfolgreicher werden, wenn wir nur
die To-do-Liste des Koalitionsvertrages abarbeiten“, meint sie. „Da spielen gute
Löhne eine wichtige Rolle.“
Union in Habacht: „Wir sollten den Mindestlohn nicht zum Spielball
parteipolitischer Debatten im Bundestag machen“, warnt Unions-Fraktionsvize Sepp
Müller gegenüber Tom Schmidtgen.
Respekt: Er werde die Entscheidung der Kommission in jedem Fall akzeptieren —
„ganz gleich, wie sie im Einzelnen ausfällt“.
Öffnungsklausel? Für zusätzliche Unruhe sorgt die Forderung des Bauernverbandes,
den Mindestlohn für Erntehelfer um 20 Prozent zu senken. Auch weil Agrarminister
Alois Rainer (CSU) das wohlwollend prüfen will.
Schweizer Käse: „Wenn man beim Mindestlohn Ausnahmen schafft, dann wird das
Instrument langfristig überflüssig“, warnt Philipp.
STRATEGISCHE STAATSBETEILIGUNGEN
STAATLICHER STAHL: Die SPD liebäugelt mit Staatsbeteiligungen an Stahlkonzernen.
„Wir müssen bei großer staatlicher Förderung auch über einen vorübergehenden
Einstieg des Staates oder eine strategische Beteiligung an Stahlunternehmen
reden“, sagte Sarah Philipp, Co-Chefin der NRW-SPD, zu Laura und Jürgen.
Förderung gegen Mitsprache: „NRW unterstützt die Transformation bei Thyssenkrupp
mit 700 Millionen Euro, der historisch höchsten Einzelförderung des Landes“, so
Philipp.
Kritik an schwarz-grüner Landesregierung: „Wenn ich mit Fördermitteln
unterstütze, warum bekomme ich eigentlich keinen Sitz im Aufsichtsrat? Warum
fordere ich das eigentlich nicht ein?“
„Wenn für Thyssenkrupp zwei Milliarden Euro Fördermittel fließen, kann es nicht
sein, dass ein paar Wochen später 11.000 Arbeitsplätze in Duisburg auf dem Spiel
stehen“, kritisierte Philipp. Bei Förderbescheiden müsse die
Arbeitsplatzsicherung, Standortgarantie, Mitbestimmung und Sozialpartnerschaft
garantiert sein.
Die Stahlkrise wird auch Thema beim SPD-Parteitag am Wochenende in Berlin. „Wir
brauchen jetzt unbedingt einen Stahlgipfel“, so Philipp. „Das werden wir beim
Parteitag auch einfordern.“
„Grüner Stahl ist zukunftsfähig“, beteuerte Philipp. „Aber dafür brauchen wir
auch die Pipeline-Infrastruktur, um den Wasserstoff nach Duisburg zu bringen.
Nach ArcelorMittal sei „natürlich die Angst da, dass dies auch bei ThyssenKrupp
passieren könnte.“
ZÖLLE I
DEEP TALK: Beim gestrigen EU-Gipfel zeigte sich Bundeskanzler Friedrich Merz
begeistert über die Detailtiefe der Gespräche, wie Hans von der Burchard in
Brüssel hört. Doch bei seinem wichtigsten Anliegen — einem schnellen, wenn auch
weniger umfangreichen Handelsabkommen mit den USA — gibt es kaum Fortschritt.
Realitätscheck: Im EU-Ratsgebäude musste sich der Kanzler von Kommissionschefin
Ursula von der Leyen anhören, dass sich die Trump-Administration ausgerechnet
bei seinem größten Anliegen — den sektoriellen Zöllen auf Produkte wie Autos,
Maschinenbau oder Pharma — am wenigsten bewegen will.
Merz wiederum warnte, genau diese Branchen seien „mit so hohen Zöllen belastet,
dass das die Unternehmen wirklich gefährdet“ — deswegen müsse eine Lösung
gefunden werden, ASAP: „Lieber jetzt schnell und einfach als langsam und
hochkompliziert.“
Pünktlich zum Gipfel legte Washington neue Forderungen vor — darunter
Zugeständnisse im landwirtschaftlichen Bereich, die für die EU schwer zu
akzeptieren sein dürften. „Wir bereiten uns auf die Möglichkeit vor, dass keine
zufriedenstellende Einigung in Reichweite ist,“ warnte von der Leyen. Emmanuel
Macron sagte wiederum, dass er mit einem 10-Prozent US-Zoll leben könne.
Problematisch ist aus Sicht der EU auch die Argumentation Trumps, die Zölle mit
der nationalen Sicherheit zu begründen. In Stellungnahmen an das
US-Handelsministerium hat Brüssel wiederholt Bedenken dazu geäußert und auf
Vergeltungsmaßnahmen im Falle neuer Zölle hingewiesen, wie unser US-Kollege Doug
Palmer nach Einsicht der Unterlagen berichtet.
Von der Leyens Gegenmaßnahme: Neue Verbündete suchen — etwa durch eine engere
Partnerschaft mit dem indo-pazifischen CPTPP-Handelsverbund, aber auch durch die
Schaffung einer Alternative zur paralysierten Welthandelsorganisation.
Merz unterstützt das: „Wenn die WTO so funktionsunfähig ist, wie sie es schon
seit Jahren ist und offenbar auch bleibt, dann müssen wir, die den freien Handel
unverändert für wichtig halten, uns etwas anderes einfallen lassen“, so der
Kanzler.
Die jüngsten Zahlen zum US-Handelsdefizit dürften Trumps Zoll-Furor nicht
bremsen. Es stieg im Mai nämlich um 11 Prozent auf 96,6 Milliarden Dollar, da
die Exporte auf den niedrigsten Stand seit Januar sanken, wie aus dem jüngsten
Advanced Economic Indicator Report des US-Handelsministeriums vom Donnerstag
hervorgeht.
KRISENMEETING: Ursula von der Leyen empfängt am kommenden Mittwoch — wenige Tage
vor der Deadline im Zollstreit zwischen den USA und der EU — zwölf deutsche
Top-CEOs zum Lunch in Brüssel. Das wurde unserem Kollegen Rasmus Buchsteiner
bestätigt.
Ungewöhnlich: Normalerweise empfängt von der Leyen im Berlaymont außerhalb von
Dialog-Formaten der Kommission keine Firmenchefs. Türöffner war in diesem Fall
Nordrhein-Westfalens Regierungschef Hendrik Wüst (CDU), der bei dem Treffen in
Brüssel dabei sein wird.
Die Agenda: Bei dem Treffen dürfte es, wie zu hören ist, um die
Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft gehen, um Industriepolitik und um die
Zollfrage.
Die Gästeliste: Leonard Birnbaum (E.ON), Carsten Knobel (Henkel), Christian
Kullmann (Evonik), Michael Lewis (Uniper), Miguel Lopez (Thyssenkrupp), Tobias
Meyer (DHL), Armin Papperger (Rheinmetall), Juan Santamaria Cases (Hochtief),
Lionel Souque (REWE), Carsten Spohr, (Lufthansa), Markus Steilemann (Covestro),
Mathias Zachert (Lanxess), Arndt Kirchhoff (Unternehmer.NRW).
KANZLER-OPTIMISMUS ZU MERCOSUR: Schon Anfang nächster Woche soll der
Südamerika-Deal den EU-Staaten zur Ratifizierung vorgelegt werden, sagte Merz am
gestrigen späten Abend.
Gleich zweimal sprach der Kanzler sprach dazu mit Emmanuel Macron, dem größten
Skeptiker. „Mein Eindruck war, … dass da eine große Bereitschaft besteht, das
jetzt auf den Weg zu bringen,“ so Merz.
ZÖLLE II
LONDON CALLING: Großbritannien denkt darüber nach, dem europäischen Zollabkommen
beizutreten. Die Regierung will Unternehmen zum Nutzen befragen. Damit ließen
sich Vorschriften für internationale Lieferketten vereinfachen. Das berichtet
mein Kollege Jon Stone.
Konkret geht es um das Pan-Europa-Mittelmeer-Zollabkommen (PEM), dessen
revidierte Fassung am 1. Januar dieses Jahres in Kraft trat.
In der gestern veröffentlichten Handelsstrategie der britischen Regierung heißt
es, der Beitritt zum PEM würde „die Flexibilität für britische Exporteure
erhöhen, wo sie ihre Vorleistungen beziehen“.
Während die europäischen Staats- und Regierungschefs beim Abendessen darüber
stritten, wie man am besten ein Handelsabkommen mit Trump abschließen könne,
äußerte sich der britische Handelsminister zuversichtlich, das
amerikanisch-britische Abkommen verbessern zu können.
„Ich habe keinen Zweifel daran, dass wir bei den Gegenzöllen Fortschritte
erzielen können“, antwortete Jonathan Reynolds auf eine Frage meines Kollegen
Graham Lanktree in London.
INFRASTRUKTUR
SERVUS SCHNIEDER: Die Verkehrsminister treffen sich heute zu einer Sondersitzung
in der Bayerischen Vertretung in Berlin, denn die Länder wollen wissen, wer die
Kosten der Infrastruktursanierung zahlt.
„Es gibt einen enormen Nachholbedarf bei der Sanierung der Infrastruktur“, sagte
der bayerische Verkehrsminister Christian Bernreiter, der auch den Vorsitz der
Konferenz innehat, zu Laura.
Ein Großteil der 4.000 maroden Brücken in Deutschland will
Bundesverkehrsminister Patrick Schnieder bis 2032 sanieren. Im Sondervermögen
Infrastruktur sind dafür in diesem Jahr 2,5 Milliarden Euro vorhergesehen, erst
danach mehr.
6.000 Brücken bräuchten einen Ersatzbau, so einer Studie des Verbands T&E. Die
Kosten belaufen sich auf 100 Milliarden Euro.
Zwar begrüßt Bernreiter das Sondervermögen Infrastruktur, aber dies erlaube
„nicht jede Brücke gleichzeitig oder das gesamte Bahnnetz auf einmal [zu]
sanieren“. Stattdessen müsse man den Fokus auf die Renovierung und Sanierung der
Bahnstrecken setzen — nicht auf den Neubau.
BAUBESCHLEUNIGUNG
FALSCHES GESETZ IM KABINETT: Der Windbau-Turbo, der vergangene Woche durchs
Kabinett ging, war eine veraltete Version. Das erfuhren Jasper Bennink und Tom
aus dem Bundestag.
Im Vorfeld gingen zwischen dem Umwelt- und Wirtschaftsministerium und der
Koalition mehrere Versionen des Entwurfs hin und her. Die Koalitionäre wollten
Paragraf 16b im Bundes-Immissionsschutzgesetz anders formuliert sehen, als er
jetzt vom Kabinett verabschiedet wurde.
Im Paragrafen geht es darum, dass nur die Bundeswehr und Luftverkehrsbehörden
Einspruch gegen Änderungen bei bereits genehmigten Windrädern erheben dürfen.
Die Koalition will, dass nach einer bestimmten Frist die Genehmigungsfiktion
gilt. Dieser Satz fehlt im Gesetz.
Kein Problem, heißt es aus der Koalition. Dies werde man mit Änderungsanträgen
im parlamentarischen Verfahren wieder zurechtbiegen.
GREEN CLAIMS
SAG EINFACH NEIN: Der VDA kritisiert die geplante Green-Claims-Richtlinie als
„Über- und Mehrfachregulierung“. Die Richtlinie belaste vor allem kleine
Unternehmen, „ohne dass es einen erkennbaren praktischen Nutzen für die
Kaufentscheidung der Verbraucher gäbe.“ Das berichtet Romanus.
Die Bundesregierung solle sich für die komplette Streichung einsetzen. „Es gibt
in der EU bereits einen bestehenden Rechtsrahmen, um irreführende Werbung
effektiv zu verhindern“, teilt der Verband mit.
KONJUNKTUR
HOFFNUNG: Die Deutsche Bank hat ihre Prognose für das Wirtschaftswachstum in
Deutschland in diesem Jahr auf 0,5 Prozent angehoben. Das geht aus einer neuen
Analyse von Deutsche Bank Research hervor (hier).
Das ist die optimistischste Prognose unter den maßgeblichen Ökonomen, deren
Konsensus bei rund 0,3 Prozent Wachstum liegt.
Momentum: Der Impuls der Ausgabenprogramme des Staates kann demnach stärker
ausfallen als bisher angenommen. 2026 könne das Wachstum auf 2,0 Prozent
anziehen.
HEUTE WICHTIG
— WOHNEN: Um 9:40 Uhr spricht Bundesbauministerin Verena Hubertz auf dem
Deutschen Mietertag in Rostock.
— FRAGEN: Um 11:30 Uhr findet die Regierungspressekonferenz statt.
— NACHBAR: Um 12 Uhr empfängt Friedrich Merz seinen österreichischen
Amtskollegen Christian Stocker mit militärischen Ehren.
Das war Industrie und Handel — das Wirtschaftsbriefing von POLITICO. Vielen
Dank, dass Sie uns lesen und abonnieren. Bis zur nächsten Ausgabe!